Geschichten aus dem Feld: Von Dörfern und inneren Landschaften

Immer wieder beobachten wir in unserer Arbeit, dass sich in Gestaltungsprozessen Orte, Themen und Menschen zunächst stark zueinander in Beziehung setzen. Daraus ergeben sich thematische Durchbrüche und positiver Wandel und das oft erst nach einer gemeinsamen Krise.

Wie direkt und stark diese Wechselseitigkeit ist, wurde mir (Jascha) allerdings erst richtig bewusst, als ich gleichzeitig fünf Prozesse mit derselben Aufgabenstellung, aber jeweils unterschiedlichem Inhalt parallel begleiten durfte.

Da ich mich lange mit der Gestaltung nachhaltiger Systeme beschäftigt hatte, erhielt ich mehrmals die Möglichkeit, im Rahmen eines ›Ecovillage Design Education Course‹ im Ökodorf Sieben Linden zu unterrichten. Dabei handelt es sich um einen dreiwöchigen Kurs, zu dem vor allem junge Menschen aus aller Welt kommen, um zu lernen, wie sie nachhaltige Lebensräume gestalten können.

Während eines Kurses hatten die Teilnehmenden die Aufgabe, innerhalb von drei Tagen ein Konzept für die nachhaltige Umgestaltung von Dörfern in ihrer jeweiligen Heimatregion zu entwickeln. Es gab jeweils Gruppen für ein Dorf in Indien, ein Dorf in Holland, einen Stadtteil in Finnland, ein Dorf in Mexiko und ein Dorf in Nigeria. In jeder Gruppe gab es mindestens einen Menschen, der das Dorf kannte, dort wohnte oder einen sehr engen Bezug zum jeweiligen Ort hatte.

In einem ersten Schritt machten sich die Gruppen intensiv mit dem Ort vertraut, soweit dies über die räumliche Distanz hinweg möglich war. Diese Aufgabe nennen wir ›Beziehung zum Feld aufbauen‹. Sie basiert auf dem Sammeln von Informationen, Argumenten und Fachwissen, auf Recherchen, Beobachtungen und Analysen, geht aber darüber hinaus: Eine Beziehung zum Feld aufzubauen beinhaltet auch das Knüpfen einer persönlichen Beziehung zum Inhalt, zu den Themen, Menschen und Orten, die für das Projekt wichtig sind. Fragen, die sich die Teilnehmenden dabei stellten, waren beispielsweise: Was sind meine eigenen Interessen und Anhaltspunkte, um mich an diesem Projekt zu beteiligen? Auf welche Aspekte reagiere ich besonders? Was spricht mich an? Wozu kann ich keinen Bezug aufbauen?

Nach dieser Arbeitsphase begannen die Gruppen, nach Gestaltungslösungen für die Dörfer zu suchen, und ich horchte in die Arbeit jeder Gruppe hinein.

In der Indiengruppe arbeiteten alle sehr vorsichtig und mit hohem Respekt für die einheimische Bevölkerung. Man wollte auf keinen Fall kolonialistisch oder invasiv auftreten, sondern entwickelte ein Konzept, um über das gemeinsame Feiern die Dorfbewohner*innen dazu einzuladen, nach Lösungen zu suchen. Die Arbeit der Gruppe verlief höflich und ruhig. Es gab wenig neue Ideen, denn die sollten erst vor Ort erarbeitet werden.

Die Gruppe, die sich mit einem holländischen Dorf beschäftigte, verfiel nach ihrer Bestandsaufnahme relativ schnell in Lethargie: Man hatte erkannt, wie düster die Zukunft des Orts war und was der demographische Wandel dort anrichten würde. Keiner wusste, wie man den Knoten lösen sollte. Die Gruppe war demotiviert und vermutete, dies habe mit ihrer mangelnder Kreativität zu tun.

Die Gruppe, die über Finnland arbeitete, verfiel umgehend in schwere Depressionen. Die Zukunft des zu bearbeitenden Stadtteils war mehr als fraglich, niemand wollte mehr in der Betonutopie aus den 70er Jahren leben. Gute Lösungen, so schien es, waren unmöglich. Die Gruppe tat sich sehr schwer damit, eine positive Vision für den Vorort zu finden.

Die Gruppe für Mexiko hatte eine besonders intensive Dynamik. Das Projekt drehte sich um ein Dorf, das von einer europäischen Entwicklungshilfeorganisation nach traditionellem Vorbild komplett neu gebaut werden sollte. Die Lateinamerikaner in der Gruppe schwiegen die ganze Zeit und schauten betreten zu Boden, während die europäische Teilnehmerin mit Enthusiasmus blumige Visionen entwickelte.

Die letzte Gruppe beschäftigte sich mit einem Dorf in Nigeria. In dieser Gruppe wurde viel gelacht und gescherzt. Es entstanden eine Reihe punktueller praktischer Lösungen. Auch wenn ich mir selbst mehr Struktur gewünscht hätte, sah ich, dass die Gruppe einen guten Arbeitsmodus gefunden hatte, den ich nicht stören wollte.

Nachdem ich eine Runde durch alle Arbeitsgruppen gemacht hatte, setzte ich mich in eine ruhige Ecke und reflektierte über die jeweiligen Prozesse. Es war frappierend, wie stark der Gruppenprozess die Atmosphäre der jeweiligen Dörfer spiegelte. Ich hätte diese Beobachtung sicherlich nicht so deutlich machen können, wenn ich mit nur einer Gruppe gearbeitet hätte. So aber fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass die jeweilige Gruppendynamik die Dynamik der Projekte reproduzierte. Plötzlich hatte ich den Gedanken, dass diese Wirkung in beide Richtung funktionieren müsste: Wenn die Gruppen eine Lösung für ihre eigene Dynamik fänden, würden sie vielleicht analog dazu auch auf Lösungen für ihre Projekte stoßen. Also ging ich zurück in die Gruppen und machte einigen von ihnen Vorschläge für das weitere Vorgehen.

Bei der Nigeria-Gruppe und der Indien-Gruppe intervenierte ich nicht. Ihnen teilte ich einfach nur meine Beobachtung über ihre jeweilige Dynamik mit. Der Gruppe, die sich mit dem Dorf in Holland beschäftigte, machte ich folgenden Vorschlag: Sie sollten davon ausgehen, dass ihre Stimmung der Stimmung der Dorfbewohner*innen entspräche. Was könnten sie als Dorfbewohner*in unternehmen, um ihre Stimmung zu heben? Die Mitglieder der Mexiko-Gruppe konfrontierte ich mit ihrer nicht vorhandenen Kommunikation. Kann ein Entwicklungshilfeprojekt funktionieren, wenn die Einheimischen schweigen und nur die europäischen Helfer*innen ihre Ideen formulieren? Der Gruppe für Finnland machte ich den Vorschlag, sich in den Ort hineinzuversetzen: Angenommen, das Gruppengefühl entspräche der Atmosphäre des Orts, was wäre dann eine Möglichkeit, diese Atmosphäre zu verbessern?

Die Holland-Gruppe entwickelte daraufhin die Idee, ein Rollenspiel durchzuführen, bei dem jede*r einen Einwohner oder eine Einwohnerin des Dorfs spielen würde. Die Mitglieder der Gruppe diskutierten miteinander, als säßen sie in der Dorfkneipe. Durch das Rollenspiel wurde ihnen deutlich, dass sich nichts ändern würde, solange das Engagement nicht von den Dorfbewohner*innen selbst käme. Die Gruppe raffte sich buchstäblich auf und motivierte sich, um mit einer gespielten großen Dorfmesse das gesamte Dorf in Bewegung zu bringen und dazu Besucher*innen aus der Region einzuladen – als erster Schritt hin zu einer partizipativen Dorfentwicklung.

Die Finnland-Gruppe gewann Energie, indem sie eine Kunstperformance für und über den Ort zu machte, jedoch in dem klaren Bewusstsein, dass der Ort selbst keine Zukunft haben würde. Manchmal kann eine gute Lösung auch darin liegen, einen Ort aufzugeben und diesen Sterbeprozess für die Betroffenen künstlerisch zu begleiten und zu verarbeiten.

Die Gruppe für das Dorf in Mexiko hatte nach meiner Intervention vereinbart, Rederunden einzuführen, in denen alle Beteiligten gleichermaßen zu Wort kommen sollten. Zudem war es ihnen wichtig, sich über die erste Arbeitsphase und ihre jeweiligen Eindrücke und Gedanken auszutauschen. Die lateinamerikanischen Teilnehmenden äußerten, dass sie sich komplett überrollt gefühlt hätten und es nicht ihr Bedürfnis sei, ein traditionelles Dorf neu zu errichten. Sie interessierten sich vielmehr für die wirtschaftliche Situation in den vorhandenen Siedlungen der Region. Erst als sich innerhalb der Gruppe alle auf gleicher Augenhöhe begegnen konnten, begann eine zarte Annäherung, und man dachte darüber nach, wie ein bestehendes Nachbardorf von den Ideen und Mitteln der Entwicklungshilfeorganisation profitieren könne.

Die Reflexion der Gruppendynamik hatte tatsächlich einen Schlüssel für die Bearbeitungen der Aufgaben geliefert. Die Ergebnisse, die während der folgenden Präsentationen vorgestellt wurden, waren allesamt beeindruckend: sehr konkret, realistisch und gleichermaßen berührend. Insbesondere die drei Gruppen, in denen ich interveniert hatte, hatten eine intensive Krise in ihrer Zusammenarbeit erlebt – in ihrer Kommunikation untereinander, in ihrer Motivation und in ihrer Emotionalität. Erst nachdem sie begonnen hatten, ihren eigenen Prozess mit dem jeweiligen Ort in Bezug zu setzen und sich intensiv mit dieser Dynamik auseinanderzusetzen, konnten auch diese Gruppen gute und produktive Lösungen entwickeln.

Dabei machten sie unterschiedliche persönliche Erfahrungen, die bei manchen zu einem Wandel der eigenen inneren Einstellung führten: die Lateinamerikaner*innen hatten gesehen, wie wichtig es ist, ihr Wort zu erheben, gerade gegenüber weißen Europäer*innen. Die europäische Teilnehmerin der Gruppe hatte entdeckt, dass sie mit Zurückhaltung, Demut und Interesse an den tatsächlichen Belangen der Menschen sehr viel mehr bewegen konnte als mit einem fertigen Konzept. Die Teilnehmer*innen der Finnland-Gruppe hatten ihre Depression und Trauer überwunden, indem sie ihrem Scheitern, beim Versuch dem Ort dauerhaft neues Leben einzuhauchen, künstlerisch Ausdruck verliehen hatten. Einige Teilnehmende der Gruppe für das Dorf in Holland hatten den Wert von Selbstermächtigung und Führung entdeckt und hatten erlebt, wie sehr es ein Projekt voranbringen kann, wenn es gelingt, in die eigene Macht zu finden.

Der Begriff “Krise” stammt aus der Medizin und bezeichnet ursprünglich den Wendepunkt im Verlauf einer Krankheit – “Crisis” bedeutet wörtlich übersetzt “Entscheidung”. Gerade heute, wo wir überall von Krisen sprechen, ist das Wissen um die Transformationskraft, die in Krisen steckt, besonders wertvoll. Diese kann sich aber nur dann entfalten, wenn wir uns nicht distanzieren oder die Probleme ausschließlich objektiv zu betrachten versuchen. Stattdessen müssen wir uns auf die Krisen und ihre Ursachen einlassen und sowohl die individuellen als auch die kollektiven Aspekte von Krisen durchleuchten.

In der Regel erleben wir Krisen als bedrohlich. Das ist aber nur ein Aspekt. Der andere Aspekt ist, dass Krisen Schmelztiegel für Themen und Prozesse sind, die zu wirklichem Wandel und neuen Ideen führen können. Krisen haben die unangenehme Eigenschaft, dass man nicht über sie hinaussehen kann. Bevor wir in eine Krise stürzen, können wir nicht erkennen, wohin uns der Prozess führen wird. Erst wenn wir schon durch die Krise gegangen sind, öffnet sich ein Horizont von Möglichkeiten für die Zukunft. Es braucht daher viel Mut, Vertrauen und Zuversicht, sich Prozessen mit Haut und Haaren zu stellen. Insbesondere dann, wenn wir den Anspruch haben, selbst an und mit ihnen zu wachsen und zu lernen.

Ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die den Zusammenhang zwischen Krise und Wandlung schon am eigenen Leib erlebt haben. Vielleicht nicht unbedingt im gestalterischen Bereich, aber familiär oder beruflich. Dass dieser Zusammenhang gerade auch in Beteiligungsprozessen genutzt werden kann, mag hingegen ein neuer, vielleicht etwas befremdender Gedanke sein. Aber ich denke, es ist überfällig, dass wir als Menschen auch in Planung und Partizipation wieder stärker sichtbar und greifbar werden.